Am Morgen, packten wir erneut all unsere Sachen zusammen, und machten uns nach dem Frühstück auf den Weg in das Kibbuz Ma’abarot. Dort angekommen wurden wir freudig von einem Mitglied des Kibbuzes in Empfang genommen. Wir suchten uns einen schönen Sitzplatz im Gelände, um uns von Jonathan von der Entstehung des Kibbuzes berichten zu lassen. Zum Beispiel erwähnte er, dass die Gründer des Kibbuzes, auf dem Gelände nichts – auẞer drei Eukalyptusbäumen – vorfanden, unter denen wir in diesem Moment saẞen. Nachdem er seine Erzählungen beendet hatte, konnten wir ein leckeres Mittagessen in der Gemeinschaftshalle, gemeinsam mit vielen Bewohnern, genieẞen. Als nächstes durften wir ein kleines Museum inmitten der Anlage bestaunen, durch welches uns Zvi, ein 86-jähriger Hollocaust-Überlebender, führte. Er erläuterte uns, auf deutsch, Einzelheiten über eine Grabeshöhle, die dort gefunden wurde. Erneut trafen wir uns mit Jonathan, der uns unsere Fragen über das Zusammenleben im Kibbuz beantwortete. Dort erfuhren wir zum Beispiel, dass sich jeder Bewohner in das Gemeinschaftsleben einbringen muss. Er nannte uns auch viele weitere Regeln und Besonderheiten, die das glückliche Zusammenleben garantieren sollen. Und tatsächlich klappt diese Lebensweise auch.
Als sich der Tag langsam wieder dem Ende zuneigte, kamen wir zum Höhepunkt des Tages. Nun erwartete uns ein emotionales Gespräch mit Zvi, welcher uns seine Lebensgeschichte erzählte.
Er begann mit dem Satz: „Die Mundharmonika rettete mir mein Leben.“
Zvi wurde 1931 in Berlin geboren. Er lebte mit seinen Eltern und Groẞeltern in einem Mehrfamilienhaus ganz in der Nähe des Alexanderplatzes. Sein Groẞvater war sein gröẞtes Idol, dessen Auftreten war selbstbewusst und stark. Als Hitler an die Macht kam, wurde er wegen seines Glaubens nach Sachsenhausen zur Zwangsarbeit gebracht. Als Zvis Mutter zufällig das Gesetz las, dass Menschen über 65 Jahren nicht zur Zwangsarbeit verpflichtet werden durften, ging sie zum obersten Polizeiamt und forderte die Freilassung ihres Vaters. Komplett abgemagert und mit Tränen in den Augen stellte er sich vor Zvi, der nicht verstand wie dies seinem Helden passieren konnte. Er sagte immer wieder: „Die haben mir die Füẞe kaputt gemacht.“ Dies verstand der Junge jedoch nie. Bis zu dem Zeitpunkt als er, 45 Jahre später, Sachsenhausen besuchte. Dort fand er heraus, dass alle Insassen das perfekte Leder für die Schuhe der deutschen Soldaten austesten mussten. Und damit die Stiefel keine Blasen an den Füßen der Soldaten verursachten, mussten die Gefangenen die Stiefel einlaufen, sodass deren Füẞe vollkommen vernarbt waren.
Im Laufe des Krieges wurden auch Zvis Eltern zur Zwangsarbeit verpflichtet. Nun war der 12-jährige Zvi, der damals noch Horst hieß, stets alleine, denn er traute sich alleine nicht mehr auf die Straße. Seine Eltern schenken ihm viele Instrumente, die er jedoch aufgrund der Nürnberger Gesetze nicht behalten durfte. Bis auf seine Mundharmonika. Er lernte sie, mithilfe der deutschen Volkslieder die ihm seine Mutter lehrte, zu spielen.
Eines Tages war es soweit, zwei SS-Soldaten standen in Uniform vor seiner Tür und schrien das Kind an. Ein lautes: „RAUS!“, brachte Zvi zum Weinen. Der SS Soldat fragte barsch: „Wad heulste?“, worauf Zvi kein Wort raus bekam. Rasch packte er seine schon zurecht gelegten Sachen zusammen. Als er seine Mundharmonika einpacken wollte, fragte der Soldat was das sei. Als der Junge die Frage beantwortete, gab der SS-Mann den Befehl er solle etwas spielen. Zvi spielte mit zitternder Stimme ein deutsches Volkslied, worauf er bei dem straff stehenden Mann eine Träne sehen konnte. Rasch rief er den zweiten Soldaten herbei, um ihn an dem Spektakel teilhaben zu lassen. Sie flehten den Jungen fast schon an, dass er bitte weiterspielen möge, doch Zvi meinte zu den Männern, dass es nun eine Bedingung geben würde. Er möchte noch einmal runter gehen, um mit dem Friseur zu sprechen, der dort seinen Salon hat. Denn von dort könnte er seine Eltern telefonisch erreichen um ihnen mitzuteilen, dass es nun soweit wäre, und sie abgeholt werden würden. Die Männer stimmten zu und Zvi und seine Eltern wurden nun schlussendlich zusammen nach Theresienstadt gebracht.
Dort wurden zwar die Männer und Frauen getrennt, doch die Kinder durften zu beiden gehen und so war Zvi eine Art Zusammenhalt für die Familie.
Als Zvi erfuhr, dass seine Groẞeltern, die schon lange vor ihnen abgeholt worden sind, auch in Theresienstadt seien, war er sehr erleichtert, da niemand so wirklich wusste, wie es anderswo zuging. Er konnte sowohl seine Oma, als auch seinen Opa wiedersehen. Obwohl die Großeltern voneinander getrennt worden sind, starben sie am selben Tag an Hunger. Täglich starben in Theresienstadt etwa 200 Menschen aufgrund des Hungers.
Zvis Arbeit in Theresienstadt bestand darin, die Leichen auf einen Wagen zu laden, um sie anschlieẞend zum Krematorium zu bringen. Später hatte er die Aufgabe, die Pappschächtelchen, die die Asche der Verstorbenen enthielten, zum Fluss zu bringen, um diese dort zu entleeren. Als Zvi vor den hunderten alphabetisch geordneten Schachteln stand, wurde sein Blick nahezu magnetisch zu einem bestimmten Punkt gezogen. Dort konnte er auf zwei Schachteln die Namen seiner Groẞeltern erkennen. Er nahm sie unter die Arme und lieẞ sie nicht mehr los, bis sie am Fluss waren. Dort erwies Zvi seinen Groẞeltern die letzte Ehre und übergab deren Asche dem Fluss.
Kurz vor Kriegsende konnten einige Juden, so auch Zvi und seine Eltern, in die Schweiz ausreisen.
15000 Kinder wurden in Theresienstadt eingeliefert. 150 Kinder haben überlebt. Darunter auch Zvi.
Zum Schluss erwähnte er es noch einmal: Seine Mundharmonika rettete ihm das Leben. Mit diesem Satz beendete er seine Lebensgeschichte und schaute uns an, als ob es selbstverständlich war, was er uns da gerade erzählt hat. Wir, den Tränen nahe, wussten anfangs nicht was wir sagen sollten. Er spielte uns die Lieder vor, die er den SS-Männern damals vor 74 Jahren vorspielte.
Die weiteren Fragen die noch aufkamen beantwortete er ganz selbstverständlich. Zu einem wurde gefragt wie er zu seinem jetzigen Namen gekommen ist. Er erläuterte uns dass, als er in das Kibbuz eintrat, wurde er gefragt wie sein Name sei. Als er ihnen sagte er heiẞe Horst Cohen, wurde er gefragt ob er auch einen jüdischen Namen hat, und er antwortete Herchel. Da dieser Name übersetzt Zvi bedeutete wurde er ab diesen Tage so genannt.
Nachdem wir uns bedankten und verabschiedeten, fuhren wir bedrückt zurück nach Ma’alot. Auf der Rückfahrt hing jeder seinen persönlichen Gedanken und Gefühlen nach. Keine unserer Busfahrten verlief so still wie diese.